Tür zum Herzen
#Tür #Tor #Herz #Wärme #Übergang #Leben #Hoffnung #Friede #Gewissen
★ Und plötzlich ist es still…
Die “Türe” sollte bei uns ursprünglich den Zugang zur Advents- und Weihnachtszeit beschreiben, da sie im alten und neuen Testament eine große Rolle spielt. Die offene Himmelstüre gibt den Blick frei zu Gott und auch viele Jesusgeschichten lassen sich inhaltlich als “Türen öffnen” betrachten. Türen stellen unter anderem die Verbindung zu einer anderen Welt dar.
Doch das Leben schlägt manches Mal eine andere Richtung ein, weshalb unser Titelbild bei uns den Übergang zum Himmel, also den Tod oder sogar Neuanfang symbolisieren soll, weil wir dies in unserer Familie zu verzeichnen haben.
Wenn die 92 jährige Mutter und Schwiegermutter im Krankenhaus landet, wissen viele von Euch da draußen, dass schier ein Wunder passieren muss, um den Ausgang positiv zu beschreiben. Nur ein kleiner Eingriff mit Narkose sollte es sein und wird zu einer unendlichen Geschichte, die letztendlich zum Tod führt.
Anfangs noch möchten wir sie zu uns holen, zu uns ins Schwabenland, wo es ihr so gut gefallen hat bei ihrem Besuch, aber zu tief ist sie mit ihrem eigenen “Zuhause” verwurzelt. Einen alten Baum versetzt man nicht mehr.
★ Und plötzlich ist es still…
Seit über einem Jahr telefonieren wir jeden Abend. Auch hier im Krankenhaus, unter diesen Umständen. Jeden einzelnen Tag gibt es Gespräche durch den Telefonhörer über Begehen, Befinden, Pflege, Schmerzen, Behandlungen, Vorkommnissen und vor allem über die Mahlzeiten. Manches Mal schmeckt das Essen, ein anderes Mal wird es abgelehnt. Im Krankenhaus ist Jubel und Trubel, doch Mutti bekommt davon wenig mit. Es fehlen Informationen, Antworten und Orientierung über weitere Vorgehen. Seitens von Ärzten, als auch von nicht wissenden Angehörigen. Zu rar sind die Auskünfte von allen Seiten.
Die Situation kann nur durch kurz aufeinander gesetzte Besuche erfolgen, was wir bestmöglich umsetzen, denn es ist ein Kraftakt par excellence, weil die Distanz von 400 km eben nicht so “geschwind” gefahren werden kann. Als arbeitende Menschen müssen diese “Reisen” aufeinander abgestimmt werden. Aber wir beide schaffen es immer. Schaffen alles. Trotz Beruf, Familie und | oder gerade wegen unseren Kindern. Weil die Mama, einfach die Mama ist.
★ Und plötzlich ist es still…
Eines Tages im Krankenhaus äußert meine Schwiegermama der Krankenschwester, dass ihre Nase etwas läuft und das Testergebnis lautet positiv. Eine 92 jährige Frau wird nun für 2 Wochen in Quarantäne gesteckt. Ohne Krankheitssymptome. Nach einer Operation in Isolation. OHNE jegliche Symptome. Die gesamte Zeit, kein Besuch, kein körperlicher Kontakt. Kein Telefonat möglich durch Technikstörungen von Krankenhausseite. Kein Lächeln, kein Streicheln, kein Augenkontakt.
★ Und plötzlich ist es still…
Wir haben Wochen, jetzt schon Monate voller Hoffnungen hinter uns, gepaart mit Trauer und völliger Hilflosigkeit. Das ständige Gefühl nicht vorab schon etwas selbst entscheiden zu können, um diese Lage verhindert zu haben, ist fast schon unerträglich. Aber leider nicht rückkehrbar. So muss die Situation von uns angenommen und bestmöglich verarbeitet werden. Aber am liebsten möchten wir sie einfach mit nach Hause nehmen. So wie es sich für eine Mama gehört. Zuhause sein. So kenn ich das aus meiner Familie.
Es sind bei ihr nicht nur die vorherrschenden körperlichen Schmerzen ausschlaggebend, sondern auch die entzogene Heimat, die zwar fürsorglich von der Family angeordnet wurde, das Herz meiner Schwiegermama aber gebrochen hat. Sie gibt sich zugänglich, ist jedoch voller Wehmut und Trauer, was irreparabel zusammenhängt bei einem gesunden Menschenverstand. Aus dem Haus gegangen, um sich einer OP zu unterziehen und letztendlich der Wohnung entmündigt, sechs weiteren Operationen unterliegend in der paläatratischen Abteilung eines nicht mehr ganz modernen Heimes zu enden.
Apropos Heim: Jetzt im Herbst 2022 ist das Zimmer dieses besagten Heimes mit zwei unterschiedlich altersbedingten Menschen belegt. Das muss nicht zwingend ein Nachteil sein, im Gegenteil. Aber wenn eine 92 jährige Dame, geschwächt und nicht mehr aufstehen könnend, Ruhe finden möchte, um den letzten Lebensabschnitt anzutreten, neben einer Person liegt, die den ganzen Tag den Fernseher auf maximale Lautstärke laufen lässt, wünsche ich mir vom Pflegepersonal, hier einen wenigstens kleinen Spürsinn, dass solch Kombinationen für einen möglichst positiven medizinischen Verlauf eventuell kontraproduktiv sind. Es gibt hier sicherlich andere Lösungen.
Die Pfleger waren sehr umsorgt und haben ihr Möglichstes gegeben. Sie haben fast täglich mit uns telefoniert und uns auf dem Laufenden gehalten. Als ehemalige Arbeitskraft in einem sozialen Beruf, sind uns die Arbeitsbedingungen in solchen Einrichtungen bekannt. Das macht es nicht besser, aber spricht das Verständnis an. Im Laufe der Besuchszeit ist das Verhältnis von uns zu den Pflegekräften fast schon freundschaftlich geworden und wir haben uns, durch zufällig gleiche Heimatorte und Lebensgeschichten, verstanden gefühlt. In diesem schweren Prozess spielt das für mich eine ganz große Rolle weil ich denke, dass meine Schwiegermutter die positive Gestimmtheit unter den Anwesenden durchaus wahrgenommen hat.
Trotzdem: Wieder möchten wir sie einfach einpacken und mitnehmen.
★ Und plötzlich ist es still…
Die letzten Male nun am Telefon sind seltsam, fast schon unheimlich. Wir verstehen kaum mehr das Wort und als wir wieder bei ihr sind wissen wir warum: Sie liegt wie schon erlöst. Still ist es, weil sie keinen Zimmernachbarn mehr verbuchen kann. Gott sei Dank. Es ist wie ein fast leerer Raum, der von unserer lieben Mutti erfüllt wird. Sie selbst kann kaum mehr sprechen. Wir halten die Hand, liebkosen und schenken Liebe ohne Ende. Und streicheln, streicheln und streicheln sie. Genau das, was mein lieber Mann bei seiner Mama macht ist das, was ich mir für jeden Sterbenden wünsche. Absolute Herzlichkeit, Empathie, Liebe und Einfühlsamkeit für die Liebenden. Ich liebe meinen Mann, weil er genau das ausstrahlt und mich verzaubert und von Freunden, Bekannten und seinen Arbeitskollegen deshalb wertgeschätzt wird. Er ist ein Mensch, der sein Herz auf dem rechten Fleck hat. Ich liebe ihn und wir werden unseren | seinen Stern, die eigene Mutter, gemeinsam nach oben entlassen, weil 92 Jahre zu wertschätzen sind.
★ Und plötzlich ist es still…
Der Besuch am 26.11.2022 und wir spüren, dass es der letzte sein wird. Unseren mittgebrachten Adventskranz mit einer roten Kerze in der Mitte kann sie wohl nur noch über den Geruchssinn wahrnehmen, wenn überhaupt, erblickt ihn aber durchaus. Wir singen Lieder, lesen aus der Bibel, beten und liebkosen. Auch richten wir Grüße aus und lassen im Gespräch vergangene Weihnachtsfeste, die wir bei ihr verbracht haben, Revue passieren.
Danke, dass du mir mit deiner herzensguten Art, dem Verständnis für andere Lebensformen, die Führsorge für sozial benachteiligte Menschen, deiner Freundlichkeit, Güte und Harmoniebedürftigkeit gelehrt hast, was wirklich wichtig ist im Leben: Ehrlichkeit und Toleranz, sich und anderen Menschen gegenüber. Kein Mensch ist frei von Fehlern. Menschlichkeit wird nicht über den Geldbeutel oder Status definiert, sondern ganz tief im Herzen. Darin finde ich mich wieder, so möchte ich sein.
Als sie uns vor Monaten noch im Krankenhaus bat, für ihren Tod zu beten, haben wir das verneinen müssen. Das ist ein Wunsch, den man nicht einfach so erfüllen kann. Zu viel Hoffnung hatten wir noch im Herzen. Am heutigen Tag, haben wir es getan: Gemeinsam mit ihr haben wir gebetet, dass sie geht. Dass er sie erlöst und zu sich holt, um ihr weiteres Leid zu ersparen.
Sie wird während unseres Besuches merklich unruhiger. Würde sie nur sprechen können, um uns mitzuteilen, was sie loswerden will. Nach der ersten Medikamentengabe vom Pfleger wird es nicht besser und die Fachkräfte besprechen wie sie weiter vorgehen sollen. Der Abschied ist intensiv, fällt so unheimlich schwer.
Der Anruf am nächsten Morgen gibt Klarheit: Sie ist erlöst!
Es ist wie eine Kerze die erlischt, wenn der Tag endet. Aber wenn wir sie für unsere liebste Mutti und Schwiegermama am nächsten Tag anzünden, weiß unsere Seelenhälfte da oben, dass wir an sie denken. Immer und ewig. Die Türe zu Dir werden wir finden. Das versprechen wir!
Ruhe in Frieden!
★ Und plötzlich ist es still…
…für immer.